Gedanken zum Austausch zwischen der deutsch-und der englischsprachigen Europarechtswissenschaft

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Keywords: EU law research – methodologies – incentive structures – exchange across language boundaries – Brexit – retained EU law

Die vorliegende erste deutschsprachige Ausgabe der ansonsten eher anglophonen European Papers lädt zu der Frage ein, wie es um den Austausch zwischen der deutschsprachigen und der englischsprachigen Europarechtswissenschaft bestellt ist. Schließlich verbindet germanophone und anglophone Europarechtler*innen nicht nur der Forschungsgegenstand, sondern gibt es unter ihnen auch einen nicht unerheblichen Anteil, der sowohl auf deutsch als auch auf englisch veröffentlichen kann und veröffentlicht hat. Das triff zweifellos auf die meisten an deutschsprachigen Universitäten beheimateten Kolleg*innen zu; aber auch im englischsprachigen Raum – der sich für diesen Beitrag auf das Vereinigte Königreich und Irland als europäische Rechtsordnungen beschränken soll – sind viele Rechtswissenschaftler*innen deutscher Muttersprache tätig. Offizielle Zahlen hierzu gibt es nicht, allerdings identifizierte Siems in einer 2021 veröffentlichten Studie[1] 46 deutsche und acht österreichische Kolleg*innen an rechtswissenschaftlichen Fakultäten der britischen Russell Group;[2] Schweizer Wissenschaftler*innen sind aufgrund ihrer offenbar geringen Anzahl nicht separat aufgeführt.[3] Bei einer „von Hand“ auf den Webseiten derselben Institutionen durchgeführten Zählung kam der Autor auf eine Zahl von insgesamt 59 deutschmuttersprachigen Wissenschaftler*innen. Hinzu kommen noch mehrere an nicht der Russell Group zugehörigen Universitäten Lehrende[4] sowie derzeit vier Kolleg*innen in Irland.[5] Von diesen hat die große Mehrheit (ca. 80%) zumindest ihr grundständiges Studium im Herkunftsland abgeschlossen. Knapp die Hälfte forscht nach Einschätzung des Autors im Europarecht bzw. in Rechtsgebieten, die vom Europarecht beeinflusst werden oder selbst einen Einfluss aufs Europarecht haben, etwa dem gewerblichen Rechtsschutz oder Arbeitsrecht.

Englischsprachige Veröffentlichungen im deutschen Sprachraum forschender und lehrender Europarechtler*innen sind keine Seltenheit. Umgekehrt jedoch veröffentlichen nur sehr wenige im englischsprachigen Raum ansässige Kolleg*innen auf deutsch, obwohl es dort nicht an einer kritischen Masse des Deutschen mächtigen Forscher*innen fehlt.[6] Mangels robuster Statistiken kann hier nur ein impressionistisches Bild gezeichnet werden, um diese Behauptung mit Fakten zu untermauern. So veröffentlichte die wohl führende englischsprachige Europarechtszeitschrift Common Market Law Review im Jahre 2021 fünf Artikel im deutschsprachigen Raum ansässiger Kolleg*innen. Bei insgesamt 28 im Jahre 2021 erschienenen Artikeln macht das einen Anteil von immerhin 18% aus. Im Jahr 2020 war der Anteil ähnlich hoch und bei 17% (vier von 23 Artikeln). Hingegen muss man nach Publikationen von im englischsprachigen Raum ansässigen Forscher*innen in der führenden deutschsprachigen Zeitschrift Europarecht lange suchen, bis man fündig wird. In dem Fünfjahreszeitraum zwischen Mitte 2018 bis Mitte 2022 kann man zwei Publikationen eines britischen Kollegen zum Brexit finden;[7] einen Aufsatz eines Kollegen, der neben seinem Lehrstuhl in Deutschland auch eine Anstellung in Glasgow hat;[8] sowie eine Urteilsanmerkung eines Doktoranden an der Universität Oxford.[9] Ebenso mau sieht es aus, wenn man sich andere deutschsprachige Publikationen ansieht. Auch in den Autorenverzeichnissen führender Europarechtskommentare und Handbücher sucht man meist vergeblich nach Spuren der europarechtswissenschaftlichen Diaspora. Einzige Ausnahmen sind der bereits oben erwähnte Kollege mit Zweitberufung in Glasgow,[10] Katja Ziegler zum Thema Brexit[11] und der Autor dieser Zeilen, der zur Enzyklopädie Europarecht beitragen durfte.

Man kann also einen vor allem einseitigen Austausch erkennen: im deutschsprachigen Raum ansässige Europarechtler*innen publizieren aus offensichtlichen Gründen in der lingua franca der Wissenschaft, während sehr wenige Publikationen durch deutschsprachige Kolleg*innen aus dem englischsprachigen Europa auf Deutsch erfolgen, wobei diese häufig wiederum britisch oder irisch geprägte Themen behandeln, vor allem natürlich den Brexit.

Zum geringen Engagement letzterer in der deutschsprachigen Europarechtswissenschaft folgt ein Erklärungsversuch, der mangels belastbarer empirischer Erkenntnisse auf Mutmaßungen beruhen muss. Mit entscheidend dürfte die Anreizstruktur im Vereinigten Königreich sein, die von der zyklischen Forschungsevaluierung durch das Research Excellence Framework (REF) bestimmt wird. Das REF bewertet ca. alle sieben Jahre die Forschungsleistung der Universitäten. Die Universität muss pro Forscher*in, die sie beschäftigt im Schnitt 2,5 Veröffentlichungen zur Bewertung einreichen, wobei pro Forscher*in zwischen einer und fünf Veröffentlichungen eingereicht werden können. Diese werden dann nach ihrer Qualität durch peer review begutachtet, wobei jede Veröffentlichung mit einer Sternewertung versehen wird von einem Stern (recognised nationally) zu vier Sternen (world-leading). Zwar sind Veröffentlichungen in jeder Sprache einreichbar, doch wird das von Universitäten in den Rechtswissenschaften in der Regel vermieden, da ihnen das Risiko einer Herabwertung zu groß erscheint. Diese Furcht ist nicht von der Hand zu weisen. So bestand das Jura-Subpanel für das REF 2021 aus insgesamt 37 Bewerter*innen, von denen 3-4 eine europarechtliche Spezialisierung haben (oder zumindest hatten), von denen nach Wissen des Autors aber niemand des Deutschen hinreichend mächtig ist. Das würde also bedeuten, dass eine deutschsprachige Europarechtspublikation von zwei fachfremden, des Deutschen mehr oder weniger Mächtigen bewertet würde, was die Objektivität und Fairness der Bewertung – sollte von so einer überhaupt die Rede sein können – in Frage stellt.

Eng damit zusammen hängt wohl ein weiterer Grund, weshalb deutschsprachige Europarechtswissenschaftler*innen selten auf deutsch publizieren: die angewandten Forschungsmethodologien im deutschsprachigen Raum und im englischsprachigen Raum haben sich in den letzten 25 Jahren auseinanderentwickelt. Wie eine Studie von MacSíthigh und Siems zeigt,[12] dominiert in Deutschland nach wie vor die praxisorientierte (damit wohl gemeint rechtsdogmatische) Forschung, während im Vereinigten Königreich und Irland Ansätze dominieren, die den Sozialwissenschaften oder den Geisteswissenschaften entlehnt sind.

Die dogmatische Methode, im englischen teils abwertend als „black letter law“ bezeichnet, hat dort – übrigens völlig zu Unrecht[13] – den Ruf, wenig originell zu sein, weswegen dogmatische Publikationen von den juristischen Fakultäten weniger gern zur Bewertung durch das REF ausgewählt werden. Hinzu tritt, dass sich die im deutschsprachigen Raum übliche Dogmatik von der im englischsprachigen Raum teils in ihrer Schwerpunktsetzung unterscheidet. So betonen englischsprachige Europarechtswissenschaftler*innen – die ja mehrheitlich der common law Tradition entstammen – das Fallrecht in der Tendenz mehr als ihre deutschsprachigen Kolleg*innen, während die Ansätze Letzterer im englischsprachigen Raum gerne als zu theoretisch und verkopft angesehen werden. Als qualitativ hochwertiger wird die mit den Geisteswissenschaften verwandte und wohl derzeit dominierende „Law in Context“ Methode angesehen,[14] also der Versuch das Europarecht in seinem historischen, politischen, ökonomischen und sozialen Zusammenhang zu verstehen. Schließlich sollte noch die empirische „socio-legal method“, die sich zunehmender Beliebtheit erfreut,[15] erwähnt werden. Deutschsprachige Forscher*innen, die in Großbritannien und Irland lehren haben sich aus o.g. Gründen diesem Mainstream im Großen und Ganzen angeschlossen.

Es ist nicht zu erwarten, dass sich der Austausch zwischen der deutschsprachigen Europawissenschaft und ihrer Diaspora groß verändern wird. Denn abgesehen von diesen institutionellen Anreizen, die auch eng mit den Beförderungsaussichten der Wissenschaftler*innen zusammenhängen,[16] muss im Hinblick auf das Europarecht noch der Brexit erwähnt werden. Dieser wird mittel- bis langfristig dazu führen, dass die Relevanz des Europarechts im Vereinigten Königreich sinken wird. Zwar ist das Europarecht nach wie vor Pflichtfach an den britischen Jurafakultäten,[17] allerdings stellt sich die Frage, wie lange das noch der Fall sein wird. Hinzu kommt ein komplett neues Rechtsgebiet, das man grob als „Law of Brexit“ bezeichnen kann. Dazu zählen das domestizierte Europarecht (retained EU law), das neue Recht des internen Marktes des Vereinigten Königreichs, das sich an den Grundfreiheiten orientiert, aber sich dann doch unterscheidet (Internal Market Act 2020) sowie das Recht des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit mit der EU. Es gibt also viel zu tun für die Kolleg*innen im Vereinigten Königreich, so dass es nicht verwundern sollte, wenn sich auch die eine oder der andere deutschsprachige Kolleg*in diesen neuen Forschungsgebieten widmen wird und sich damit auch aus dem Mainstream des Europarechts, der ja für uns in der EU Verbliebene nach wie vor von größter Bedeutung ist, ausklinkt.

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European Papers, Vol. 8, 2023, No 1, European Forum, Highlight of 24 May 2023, pp. 93-97
ISSN 2499-8249 - doi: 10.15166/2499-8249/640

* Jean Monnet Chair in EU Law and Fundamental Rights, Maynooth University, tobias.lock@mu.ie.

[1] M Siems, ‘Foreign-trained legal scholars in the UK: ‘irritants’ or ‘change agents’?’ (2021) Legal Studies 373, 378.

[2] Die Russell Group ist eine Gruppe von 24 forschungsintensiven Universitäten, zu der u.a. Oxford, Cambridge, Edinburgh, University College London und die London School of Economics gehören, s. www.russellgroup.ac.uk.

[3] Die von Siems erstellte Tabelle stellt ein Ranking der Top-20 Nationen an juristischen Fakultäten im Vereinigten Königreich dar; offenbar zählt die Schweiz nicht dazu. Deutsche stellen danach die viertgrößte Gruppe dar und – nach den griechischen Kolleg*innnen – die zweitgrößte Gruppe, die nicht aus der common law Tradition stammt.

[4] Etwa Anne Thies (Reading); Katja Ziegler (Leicester); Rebecca Zahn (Strathclyde); Sabine Michalowski (Essex) und Florian Becker (Aberdeen).

[5] Neben dem Autor noch Dagmar Schiek (Cork) sowie Justin Jütte und Amrei Müller (beide University College Dublin).

[6] Zu den Muttersprachlern kommen selbstverständlich noch einige (wenige) Briten und Iren dazu, die fließend Deutsch sprechen.

[7] M Kenny, ‘Der inszenierte „Brexit“ II: Endloses Feilschen und verfassungsrechtliche Zerreißprobe?‘ (2021) EuR 375; ders., ‘Der inszenierte "Brexit": Was steckt hinter den ziellos scheinenden Verhandlungen zum EU-Austritt des Vereinigten Königreichs?‘ (2018) EuR 561.

[8] J P Terhechte, ‘Nationale Gerichte und die Durchsetzung des EU-Rechts‘ (2020) EuR 569.

[9] J Weinzierl, ‘Der EuGH erklärt erstmalig nationales Recht für ungültig – Anmerkung zum Urteil des EuGH v. 26.2.2019, Rs. EUGH Aktenzeichen C-202/18 (Rimšēvičs)‘ (2020) EuR 434; dazu kommt noch ein weiterer Aufsatz eines LLM Kandidaten in den USA, der aber aufgrund der Beschränkung der Suche auf Kolleg*innen in Großbritannien und Irland nicht gezählt werden soll; s. L von Danwitz, ‘Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Eine wertebasierte Garantie der Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts‘ (2020) EuR 61.

[10] Jörg Philipp Terhechte ist Mitautor bei Grabitz/Hilf und von der Groeben/Schwarze sowie der Enzyklopädie Europarecht.

[11] K Ziegler, ‘Beziehungen zum Vereinigten Königreich nach dem Brexit’ in A von Arnauld und M Bungenberg (Hrsg.), Europäische Außenbeziehungen, Enzyklopädie Europarecht Bd. 12 (2. Aufl. Baden-Baden Nomos 2022) 501-554.

[12] M M Siems und D M Síthigh, ‘Why we do what we do: comparing legal methods in five law schools through survey evidence’ in R van Gestel, H-W Micklitz und E L Rubin (Hrsg.),  Rethinking Legal Scholarship (Cambridge University Press 2017) 31; als pre-print erhältlich unter www.dro.dur.ac.uk.

[13] S. dazu etwa den kürzlich erschienenen (arbeitsrechtlichen) Aufsatz von A Bogg, ‘Can We Trust the Courts in Labour Law? Stranded Between Frivolity and Despair’ (2022) International Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations 103, 131 ff.

[14] Zu deren Entwicklung im Europarecht s. C Harlow, ‘The EU and law in context: the context’ (2022) European Law Open 209-21.

[15] Dazu C O’Brien, ‘European Union Law’ in C Hunter (Hrsg.), Integrating Socio-Legal Studies into the Law Curriculum (Palgrave 2012) 184.

[16] Im Unterschied zu den deutschsprachigen Ländern, beginnen Wissenschaftler*innen in Großbritannien und Irland ihre Karriere typischerweise als Lecturer (oder Assistant Professor) und müssen sich dann in i.d.R. zwei Promotionsrunden zunächst zum Senior Lecturer (Associate Professor) und schließlich zum Professor befördern lassen. Dies ist nicht jedem/r vergönnt: manch eine(r) geht als Lecturer oder Senior Lecturer in den Ruhestand.

[17] Das englische Bar Standards Board hat erst im Mai erklärt, dass das zunächst auch so bleiben solle, wenn man in Zukunft Barrister werden möchte, www.barstandardsboard.org.uk.

 

 

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