Auswirkung von Sprache auf das Verhältnis von Europarechtswissenschaft und Forschung zum inter- und transnationalen Recht

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Keywords: language – interdisciplinary exchange – limitations – EU law discourse – international law – transnational law.

Die Chancen und Herausforderungen einer – je nach dem normativen Standpunkt – sprachlich vielfältigen bzw. zersplitterten Europarechtswissenschaft sind zahlreich. Der vorliegende Kurzbeitrag soll ein Schlaglicht auf einen der relevanten Aspekte werfen: die Auswirkung der Sprache in der Europarechtswissenschaft auf den diskursiven Austausch mit rechtswissenschaftlicher Forschung zum inter- und transnationalen Recht. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Europarecht im engeren Sinne, also dem EU-Recht.

Sprache hat eine nach innen gerichtete inkludierende und eine nach außen gerichtete exkludierende Wirkung. Sie verbindet Sprechende miteinander zu einer Gruppe und schließt diejenigen aus, die die jeweilige Sprache nicht sprechen. Im akademischen Diskurs überträgt sich diese Innen-Außen-Dichotomie auf die wissenschaftlichen Inhalte. Sprache, Sprechende und Gesprochenes werden – ob gezielt oder nur de facto – nach außen gegen andere(s) abgegrenzt.

Das Beispiel der deutschen Rechtswissenschaft zeigt, wie Sprache als Faktor zu einer intradisziplinären Grenzziehung beitragen kann. Der deutsche europarechtliche Diskurs war für lange Zeit hauptsächlich nach innen gerichtet. Der Diskurs fand nicht nur in deutscher Sprache statt, sondern auch ganz überwiegend zwischen Forschenden aus dem deutschsprachigen Raum. Publikationen in anderen Sprachen bzw. von Forschenden außerhalb des deutschsprachigen Raums wurden nur begrenzt in den Diskurs einbezogen.[1] Das zeigt zum Beispiel ein Blick auf die in der Kommentarliteratur, in Lehrbüchern und in Texten in Fachzeitschriften in Bezug genommenen Forschungsbeiträge, die im Schwerpunkt deutschsprachig sind;[2] die Herausgebenden, Autor:innen und Zielgruppe deutscher Zeitschriften mit europarechtlichen Inhalten, die sich für die meisten Zeitschriften vor allem aus deutschen bzw. deutschsprachigen Personen zusammensetzt;[3] und auch die Sprache, in der Forschende im Bereich des Europarechts publizieren – hier waren Publikationen in deutscher Sprache lange vorherrschend. Im Vergleich dazu war der Diskurs zum internationalen und auch zum transnationalen Recht deutlich offener – sowohl in sprachlicher Hinsicht als auch in der Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen nicht-deutschsprachiger Forschender. Insbesondere Publikationen in englischer Sprache sowie die Rezeption englischsprachiger Literatur in diesen und anderen Beiträgen sind etablierter Bestandteil der deutschen Völkerrechtswissenschaft. Darin zeigt sich eine doppelte Grenzziehung: zum einen zwischen der deutschsprachigen und nicht-deutschsprachigen Europarechtswissenschaft und zum anderen zwischen der Europarechtswissenschaft und den damit in Beziehung stehenden Bereichen der Rechtswissenschaften. Beide Grenzziehungen sind eng miteinander verknüpft.

Wegweisend für diese Entwicklung war die Van Gend en Loos-Entscheidung des Europäischen Gerichthofs (EuGH), die den Anlass und die vermeintliche Legitimierung einer wissenschaftlichen Abgrenzung gegenüber dem Völkerrecht geboten und damit auch für den Rückzug auf die Einsprachigkeit in der deutschen Europarechtswissenschaft eine Legitimationsgrundlage geschaffen hat. Da der Gerichtshof die Abgrenzung des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem Völkerrecht etabliert hatte, schien es aus europarechtlicher Sicht auf der Grundlage einer “Autonomie“ des Gemeinschaftsrechts nicht erforderlich, mit dem Völkerrecht, das auch in Deutschland weniger wissenschaftlich insular war, in engem Kontakt zu bleiben.[4] Dabei ist nicht nur die Interaktion mit diesem Bereich der Rechtswissenschaften ein Stück weit verloren gegangen, sondern auch der  Ansatz einer stärkeren transnationalen Kommunikation zwischen Forschenden, der mit einer Eingliederung von europarechtlichen Fragestellungen in die internationalen Diskurse einhergeht. Die sprachliche und inhaltliche Nach-Innen-Gewandtheit der deutschen Europarechtswissenschaft ist (auch) das Ergebnis dieser disziplinären Abkoppelung.[5]

Einmal etabliert wirkte die sprachliche Abkopplung als Grundlage für eine Perpetuierung der inhaltlichen intradisziplinären Abgrenzung. Wenn in der Europarechtswissenschaft hauptsächlich deutschsprachige Forschung rezipiert wird, bleibt nicht nur nicht-deutschsprachige europarechtliche Forschung, sondern auch Forschung aus den verbundenen Bereichen wie inter- und transnationales Recht unberücksichtigt. Denn da für letztere der Kern des wissenschaftlichen Diskurses in englischer Sprache stattfindet,[6] bedeutet dies, dass der Austausch zwischen diesen wissenschaftlichen Teilbereichen jedenfalls für die deutschsprachige Europarechtswissenschaft ein Stück weit abgeschnitten ist. Sprache trägt insofern dazu bei, die Gelegenheiten dafür zu minimieren, dass Forschung aus den anderen Teilbereichen wahrgenommen und Teil der europarechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung wird.

Was bleibt dadurch außen vor? Zum einen der substanzielle Austausch und zum anderen bestimmte Dimensionen des Selbstverständnisses der Disziplin und der daran teilhabenden Akteure. Mit Blick auf den substanziellen Austausch betrifft dies insbesondere strukturelle Fragestellungen. Diese beinhalten beispielsweise folgende Aspekte: Aus der deutschen europarechtlichen Perspektive spielen der Vergleich und die gegenseitige Befruchtung mit regionalem internationalem Recht in anderen Teilen der Welt nur eine geringe Rolle. Dies betrifft insbesondere grundlegende Rechtsprinzipien regionaler Integrationsgemeinschaften, institutionelle Strukturen und die Rolle des EuGH im Vergleich zu anderen regionalen Gerichten. Zudem werden elementare Aspekte wie das Verhältnis von Europarecht und nationalem Recht nur als spezifische Frage des Europarechts behandelt und nicht als generelle Frage der Interrelationen von Rechtsordnungen bzw. Rechtsräumen verstanden, die für viele transnationale Kontexte von Bedeutung sind.[7] Damit wird beispielsweise Hybriditätserscheinungen zwischen nationalem und internationalem, privaten und öffentlichen Recht sowie bindenden und nicht-bindenden Normen, die einen der Kernaspekte des transnationalen Rechts darstellen,[8] nur vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt. Auch die EU als internationaler Akteur spielt für den europarechtlichen Diskurs nur eine geringe Rolle.[9]

Neben solch einem eingeschränkten substanziellen Austausch mit der inter- und transnationalen rechtswissenschaftlichen Forschung lässt sich argumentieren, dass sich die sprachliche Grenzziehung auch auf das Selbstverständnis der Disziplin und der daran teilhabenden Akteure auswirkt. Mit einer sprachlichen Nach-Innen-Gewandtheit geht leicht auch der Blick für die Sichtweisen und Akteure außerhalb der eigenen, sprachlich determinierten Gruppe sowie für die Implikationen europarechtlicher Normsetzung und -anwendung für Akteure außerhalb dieser Gruppe verloren. Es kommt aufgrund der sprachlichen Begrenzung zu weniger Kontakten mit anderen Perspektiven. Sprache kann insofern in ihrer Wirkung einer “Filterblase“ recht nahekommen. Abgegrenzte sprachliche Europarechtsdiskurse und die Existenz “nationalen Unionsrechts“ werden deshalb schon länger kritisch reflektiert.[10] Gleichzeitig bestehen dadurch auch weniger Gelegenheiten, die Einbettung nationaler und regionaler Rechtsfragen in größere Zusammenhänge im Auge zu behalten. Dies mag beispielsweise einer der Faktoren sein, der die europarechtsrelevanten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts der letzten Jahre, die von einem sehr insularen Verständnis zeugen und mit der PSPP-Entscheidung zum Staatsanleihekaufprogramm der EZB ihren Höhepunkt fanden, und die trotz allem recht wohlwollende Rezeption dieser Entscheidungen durch einen Teil der deutschen Rechtswissenschaft beeinflusst haben[11] – eine Bewertung, die aus inter- und transnationaler Perspektive tendenziell anders ausfallen würde. Darin wird auch deutlich, dass die sprachliche Selbst-Begrenzung nicht nur wissenschaftliche, sondern auch (rechts-)politische Auswirkungen haben kann.

Wenn Sprache als Dimension, die für die Europarechtswissenschaft prägend ist, diskutiert wird, sollte daher der Fokus nicht nur auf dem Dialog zwischen Europarechtswissenschaftler:innen der verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten liegen, sondern auch auf den Auswirkungen, die Sprache auf den intradisziplinären Diskurs insbesondere hinsichtlich des inter- und transnationalen Rechts sowie die weitergehenden (rechts-)politischen Implikationen haben kann. Die (langsame) sprachliche Öffnung der deutschen Europarechtswissenschaft, die in den letzten Jahren zu verzeichnen ist (beispielsweise in Form von mehr englischsprachigen Publikationen und Veranstaltungen deutscher Forschender oder der transnationalen Kommunikation zu europarechtlichen Themen über Plattformen wie den Verfassungsblog, der mehrsprachig ist),[12] hat daher eine vielschichtige Relevanz. Sie bietet insbesondere die Chance, mit den verbundenen Bereichen der Rechtswissenschaften wieder enger in Kontakt zu treten und den gegenseitig befruchtenden Austausch zu suchen.

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European Papers, Vol. 8, 2023, No 1, European Forum, Highlight of 24 May 2023, pp. 77-80
ISSN 2499-8249 - doi: 10.15166/2499-8249/636

* Dr. iur., Freie Universität Berlin, dana.burchardt@fu-berlin.de.

[1] Dazu auch A Hatje und P Mankowski, ’Nationale Unionsrechte’ (2014) EuR 155.

[2] Eine empirische Auswertung der Referenzen in Zeitschriftenbeiträgen findet sich bei D Thym, ’Zukunft und Zustand der Europarechtswissenschaft in Deutschland’ (2015) EuR 671.

[3] Dazu auch CD Classen, ’Unionsrecht als Integrationsrecht verstehen! Zu Selbstverständnis und Perspektiven der Europarechtswissenschaft’, (2020) Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 489, 510.

[4] Zur Autonomie des Gemeinschaftsrechts als “logische Folgerung“ der Unterscheidung von Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht, vgl. etwa H P Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht (J.C.B. Mohr 1972), 294.

[5] Zu weiteren Faktoren wie etwa der größeren Sprachenvielfalt unter den EU-Mitgliedstaaten im Vergleich zu der Zeit der sechs Gründungsstaaten und damit einer erschwerten Rezeption anderssprachiger Forschungsbeiträge, D Thym, ’Zukunft und Zustand der Europarechtswissenschaft in Deutschland’ (2015) EuR 671, 679.

[6] Für einen Überblick bspw. zu den zahlreichen englischsprachigen, jeweils nationalen Yearbooks of International Law sowie zum Einfluss der englischsprachigen Zeitschriften EJIL und AJIL auf den völkerrechtlichen Diskurs, s. etwa C Tomuschat, ’The (Hegemonic?) Role of the English Language’ (2017) NordicJIL 196, 214-225.

[7] Zum Begriff des Rechtsraums und der Analyse von Interrelationen, D Burchardt, ’The Concept of Legal Space - A Topological Approach For Addressing Multiple Legalities’ (2022) Global Constitutionalism 518.

[8] Vgl. etwa P Zumbansen, ’Defining the Space of Transnational Law: Legal Theory, Global Governance, and Legal Pluralism’ (2012) TransnatlL&ContempProbs 305.

[9] Siehe bspw. die nachgeordnete Stellung und häufig im Vergleich zu anderen Aspekten des Europarechts eher kursorische Behandlung dieser Thematik in Europarechtslehrbüchern.

[10] Dies ist auch im deutschen Diskurs der Fall. S. z.B. A von Bogdandy, ’Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht: Strukturen, Debatten und Entwicklungsperspektiven der Grundlagenforschung zum Recht der Europäischen Union’ (2001) Der Staat 3, 7-8; D Thym, ’Zukunft und Zustand der Europarechtswissenschaft in Deutschland’ (2015) EuR 671; C D Classen, ’Unionsrecht als Integrationsrecht verstehen! Zu Selbstverständnis und Perspektiven der Europarechtswissenschaft (2020) Jahrbuch des öffentlichen Rechts 489, 510. Insbesondere zum Begriff des “nationalen Unionsrechts“, G Sydow, ’Die Europarechtswissenschaft europäisieren?’ (2020) Jahrbuch des öffentlichen Rechts 545, 547.

[11] S. bspw. U Haltern, ’Ultra-vires-Kontrolle im Dienst europäischer Demokratie’ (2020) Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 817; W Kahl, ’Optimierungspotenzial im „Kooperationsverhältnis“ zwischen EuGH und BVerfG’ (2020) Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 824; W Erbguth, ’Kompetenzabgrenzung zwischen EU und Mitgliedsstaaten: Die PSPP-Entscheidung des BVerfG’ (2021) DVBl 209; C Hillgruber, Viel Lärm um nichts?, FAZ Einspruch v. 18.5.2020; Dieter Grimm, Jetzt war es soweit, FAZ v. 18.5.2020.

[12] S. auch M Ruffert, ’Eine Binnenperspektive auf die deutsche Europarechtswissenschaft – zehn Jahre nach der großen Erschütterung’ (2020) Jahrbuch des öffentlichen Recht 515, 521.

 

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