Einheit des Rechts aber nicht der Wissenschaft?

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Keywords: legal unity – scientific discourse – fragmentation – comparison of laws – public law – international law.

Ob man nun die EU als Rechtsgemeinschaft, als Rechtsunion, oder als Rechtsraum bezeichnet,[1] zugrunde liegt ein Anspruch auf Einheit, auf Interdependenz zwischen den einzelnen Teilen der Gemeinschaft/der Union/des Raums. Der EuGH spricht in seinen Urteilen immer wieder von Einheit, Einheitlichkeit und Kohärenz im Zusammenhang mit der Wirkung und Anwendung einerseits betreffend das Unionsrecht selbst, andererseits betreffend den Verbund des Unionsrechts mit den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten.[2] In rechtlicher Sicht kann man diese Einheit entweder erzwingen (durch Vertragsverletzungsverfahren oder andere Sanktionsmechanismen) oder auf die Wirkmacht der Prinzipien der Solidarität, Loyalität und des gegenseitigen Vertrauens hoffen.[3]

Dieser Einheitsanspruch müsste auch die Wahrnehmung des Unionsrechts in der Rechtswissenschaft determinieren. Man sollte annehmen, dass eine Rechtsordnung, die in verschiedenen Mitgliedstaaten einheitlich gelten und angewendet werden soll, auch einheitlich wahrgenommen und rezipiert werden sollte. Damit ist nicht gemeint, dass etwa die Richtigkeit von EuGH-Urteilen in allen Mitgliedstaaten uniform beurteilt werden sollte oder dass eine einheitliche Grundrechtsdogmatik bestehen sollte,[4] sondern dass der rechtswissenschaftliche Diskurs über die Unionsrechtsordnung in der gleichen ”Sprache” geführt wird. Es gibt gute Gründe zu bezweifeln, dass dies der Fall ist.

Eine erste Hürde ist offenkundig die sprachliche Barriere im wörtlichen Sinn. Es wurde bereits durch Auswertung der Zitierpraxis und der Autorenschaft in führenden Europarechtszeitschriften nachgewiesen, dass auf transnationaler und nationaler Ebene halbautonome Diskursräume bestehen, die sich nur partiell überschneiden.[5] Weder werden in der Regel Beiträge aus dem Il Diritto dell’Unione Europea oder der Revue trimestrielle de droit européen in der Zeitschrift Europarecht zitiert – und wenn dies häufiger geschieht, wie in den letzten Jahren mit der RTDeur, dann von einigen wenigen Autoren –, noch ist davon auszugehen, dass Beiträge aus Europarecht regelmäßig in nicht-deutschsprachigen europarechtlichen Publikationen zitiert werden. Ein diesbezüglicher Befund aus dem Jahr 2005 dürfte heute daher nicht viel anders ausfallen.[6] Wobei anzumerken ist, dass diese Dissonanzen nicht nur die Wissenschaft betreffen, sondern gleichermaßen den öffentlichen Diskurs in der Europäischen Union im Allgemeinen.[7]

Auch der Siegeszug der englischen Sprache als Sprache des globalen wissenschaftlichen Diskurses hat zumindest in der Zeitschriftenlandschaft nicht bewirkt, dass die oben genannten Räume nachhaltig aufgebrochen wurden. Dies obgleich es scheint, dass sich in den ‚transnationalen‘, englischsprachigen Zeitschriften Common Market Law Review und European Law Review, aber etwa auch European Public Law, der Anteil an AutorInnen aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien und Spanien zunehmend vergrößert, und das Il Diritto dell’Unione Europea englischsprachige Aufsätze und Zusammenfassungen bietet. Insofern unterscheidet sich das Europarecht vom Völkerrecht, wo nationale Fachzeitschriften (die Yearbooks) schon frühzeitig auf Englisch publiziert wurden, und zwar auch in Ländern wie Italien oder Spanien.[8] Ein einheitlicher Rechtsraum steht somit einem überwiegend uneinheitlichen wissenschaftlichen Diskursraum gegenüber. Es finden sich auch immer noch Monographien, die in angesehenen deutschsprachigen Verlagen veröffentlicht werden, welche es zwar verabsäumen, die relevante (auch nur) englischsprachige Referenzliteratur zu rezipieren, welche jedoch dennoch sowohl der Verleihung der Doktorwürde also auch der Publikation für geeignet befunden wurden.

Die Fragmentierung der Unionsrechtswissenschaft hat schließlich auch Wurzeln in der jeweiligen ‚Wissenschaftskultur‘, die mit dem Naheverhältnis zu einem der ‚traditionellen‘ Fächer öffentliches Recht/Staatsrecht und Völkerrecht einhergeht. Auch hierzu wurde schon bemerkt, dass eine Zuordnung zum öffentlichen Recht tendenziell eine Verstaatlichung des Diskurses bewirkt.[9] Dies ist wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Blick über den eigenen Rechtsraum im öffentlichen Recht einer Unterdisziplin, dem vergleichenden Verfassungsrecht, vorbehalten ist und daher nicht zum alltäglichen Repertoire eines Staatsrechtlers/Verfassungsrechtlers gehört.[10] Das Unionsrecht hingegen ist stark der Rechtsvergleichung als inhärenter Methode der Rechtsentwicklung verpflichtet, vor allem im Bereich der Grundrechte.[11] Gleichzeitig ist ein Verständnis der Wirkung des Unionsrechts nur dann zu gewinnen, wenn man dessen Wirkung und Anwendung in den jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in den Blick nimmt.[12] Ein unionsrechtliches Verhaltensgebot wie die richtlinienkonforme Auslegung muss auch an dessen Anwendung durch die dadurch Verpflichteten, die mitgliedstaatlichen Gerichte, gemessen werden. Dies als klassischen Rechtsvergleich zu qualifizieren verkennt, dass es um die Betrachtung einer einheitlichen, gleichgeltenden Rechtsfigur geht, die methodisch in die unterschiedlichen Rechtskulturen und -ordnungen der Mitgliedstaaten eingefügt werden muss.[13]

Die Defizite zu benennen, die eine tatsächliche Europäisierung der europarechtlichen Wissenschaft verhindern, ist vergleichsweise einfach. Lösungen zu finden ist beträchtlich schwieriger. Eine notwendige Änderung wäre wohl, dass innerhalb der ‚halbautonomen‘ Diskursräume ein grundsätzliches Problembewusstsein entsteht. Das Sprachenproblem bei Zeitschriften ließe sich wohl nur durch einen ähnlichen Übersetzungsaufwand lösen, wie ihn der EuGH bei Urteilen betreibt sowie die anderen Organe bei Rechtsakten. In Curia wird ja bereits zu den jeweiligen Urteilen auf die betreffende Zeitschriftenliteratur aus allen Mitgliedstaaten und Sprachen hingewiesen. Die Übersetzung dieser Beiträge, selbst nur in Form einer Zusammenfassung, wäre zweifellos ein beträchtlicher Aufwand, der sich allerdings lohnen könnte. Interessante Entwicklungen sind (open access) Zeitschriften wie das German Law Journal, die European Papers, European Law Open, und auch tws. der Verfassungsblog. Sie alle könnte man, alleine auf Grund ihrer Autorenschaft, nicht eindeutig einem einzigen Teilraum innerhalb der EU zuordnen. Sie sind somit Vorboten eines genuin unionalen Rechtsraumes und Ausdruck einer transnationalen europäischen Wissenschaftsgemeinschaft.

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European Papers, Vol. 8, 2023, No 1, European Forum, Highlight of 24 May 2023, pp. 85-87
ISSN 2499-8249 - doi: 10.15166/2499-8249/638

* Universität Graz, Bundeskanzleramt Wien, marcus.klamert@uni-graz.at.

[1] A von Bogdandy, ‘Jenseits der Rechtsgemeinschaft – Begriffsarbeit in der europäischen Sinn- und Rechtsstaatlichkeitskrise’ (2017) EuR 487.

[2] Auf beiden Ebenen manifestieren sich verschiedene Erscheinungsformen der Einheit mit unterschiedlichen Zielsetzungen in unterschiedlicher Weise. Siehe M Klamert, ‘Einheit und Fragmentierung im Unionsrecht’ (2019) EuR, Beiheft 2, 133.

[3] Zu letzterem siehe K Lenaerts, ‘La vie après l’avis: Exploring the Principle of Mutual (yet not blind) Trust’ (2017) CMLRev 805.

[4] CD Classen, ‘Kann eine gemeineuropäische Grundrechtsdogmatik entstehen?’ (2022) EuR 279.

[5] D Thym, ‘Zustand und Zukunft der Europarechtswissenschaft in Deutschland’ (2015) EuR 671, 701f.

[6] B de Witte, ‘European Union Law: A Unified Academic Discipline?’ (EUI Working Papers Robert Schuman Centre for Advanced Studies 34/2008) 8.

[7] Vgl. M Klamert, EU-Recht (3. Aufl. Manz 2021) 445.

[8] Siehe auch B de Witte, ‘European Union Law: A Unified Academic Discipline?’ cit. 9.

[9] D Thym, ‘Zustand und Zukunft der Europarechtswissenschaft in Deutschland’ cit.

[10] Prominente Ausnahmen wie das Handbuch Ius Publicum Europaeum bestätigen diese Regel.

[11] Siehe art. 6 EUV. K Lenaerts, ‘Interlocking Legal Orders in the European Union and Comparative Law’ (2003) ICLQ 873; W Obwexer in A Gamper und B Verschraegen (Hrsg.), Rechtsvergleichung als juristische Auslegungsmethode (IACPIL, Vol IV) (Jan Sramek 2013) 115.

[12] K Granat, The Principle of Subsidiarity and its Enforcement in the EU Legal Order. The Role of National Parliaments in the Early Warning System (Hart 2019); S Kamanabrou, Richtlinienkonforme Auslegung im Rechtsvergleich: Eine Untersuchung am Beispiel des Urlaubsrechts (Mohr Siebeck 2021).

[13] Bereits M Klamert, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts im Lichte ihrer Anwendung in Deutschland, England, Frankreich und Österreich (Manz 2001), Einleitung. Anders stellt sich dies etwa für die Schweiz dar, siehe F Sprecher, ‘Rechtsvergleichung bei Übernahme von Unionsrecht Das Recht der Europäischen Union in der schweizerischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung – eine Übersicht’ (2013) Journal für Rechtspolitik 52.

 

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