Die Übersetzungspraxis von Verfassungsgerichten und ihr Beitrag zur deutschsprachigen Europarechtswissenschaft

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Keywords: translations of decisions – constitutional courts – German-speaking European legal studies – BundesverfassungsgerichtVerfassungsgerichtshofConseil constitutionnel.

Will man die Rolle der deutschsprachigen Europarechtswissenschaft über Landesgrenzen hinweg beleuchten, kommt einschlägigen Entscheidungen von Verfassungsgerichten in deutschsprachigen Ländern zweifellos große Bedeutung zu.[1] Wer der deutschen Sprache nicht mächtig ist, kann am wissenschaftlichen Diskurs über diese Entscheidungen indirekt über deren Rezeption in anders-, v.a. englischsprachiger Literatur, teilnehmen oder aber direkt, sofern Entscheidungsübersetzungen vorhanden sind. In Anbetracht dieser Wirkmechanismen werden wir uns in diesem Highlight der Übersetzungspraxis der beiden überwiegend deutschsprachigen EU-Mitgliedstaaten Deutschland und Österreich widmen.

Es mag paradox erscheinen, die Bedeutung der deutschsprachigen Europarechtswissenschaft anhand der Übersetzungspraxis deutschsprachiger Höchstgerichte zu untersuchen. Doch ist unserer Ansicht nach ein Teil der Verbreitung „deutschsprachiger“ – d.h. auch: von der deutschsprachigen Rechts(wissenschafts)kultur geprägter – Europarechtswissenschaft die Weitergabe und Rezeption der darin gewonnenen Erkenntnisse. Die Funktionalität eines solchen Diskurses über die Landesgrenzen hinweg ist zu einem großen Teil abhängig von Übersetzungen. Nach diesem Verständnis ist auch die Übersetzungspraxis deutschsprachiger Verfassungsgerichte im europarechtlichen Kontext ein maßgeblicher Aspekt der deutschsprachigen Europarechtswissenschaft in Europa.

Vor diesem Hintergrund möchten wir die Übersetzungspraxis der beiden deutschsprachigen Verfassungsgerichte in EU-Mitgliedstaaten – dem deutschen Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und dem österreichischen Verfassungsgerichtshof (VfGH) – näher beleuchten. Gewissermaßen als Gegenprobe werden wir sodann die Übersetzungsgewohnheiten eines wichtigen nicht deutschsprachigen Verfassungsgerichts, nämlich des französischen Conseil constitutionnel (CC), in den Blick nehmen. Endlich werden wir unsere Schlüsse aus dieser Untersuchung ziehen.

Das BVerfG betreibt seit 2014 seine Webseite auch in englischer und französischer Sprache. Seit damals werden ausgewählte Entscheidungen vollständig oder zusammengefasst in englischer, französischer bzw. spanischer Übersetzung zur Verfügung gestellt. Die Entscheidung über das Ob und ggf. das Wie von Übersetzungen obliegt dem jeweils entscheidenden Senat, wobei dafür die Bedeutung des zugrunde liegenden Verfahrens für das Ausland Richtschnur sein soll. Für die Herstellung der Übersetzungen zuständig ist die Protokollabteilung im BVerfG, in der derzeit sechs Übersetzer/-innen arbeiten. In den vergangenen zehn Jahren hat das BVerfG 59.485 Entscheidungen getroffen, wovon 224 ganz oder in zusammengefasster Form ins Englische übersetzt wurden, fünf ins Französische und eine ins Spanische. Einen starken europarechtlichen Bezug wiesen dabei 26 der englischen und vier der französischen Übersetzungen auf. Nach der Verfügbarkeit auf seiner Webseite zu schließen, hat das BVerfG ab den 2000er Jahren in zunehmendem Maße – davor nur ganz vereinzelt – Presseaussendungen, etwa zu seinen Entscheidungen, auf Englisch übersetzt. Zuletzt ging deren Zahl jährlich in die Dutzende. Ganz vereinzelt wurden auch französische Übersetzungen publiziert.

Beim VfGH wurden erstmals 2005 englischsprachige Inhalte auf der Webseite bereitgestellt, darunter auch Zusammenfassungen einzelner Entscheidungen. Der Beschluss, einen Gerichtsentscheid ganz oder teilweise zu übersetzen, erfolgt nach dessen Wichtigkeit für den internationalen/europäischen Diskurs. Dieser Beschluss kann von einzelnen VfGH-Mitgliedern angeregt werden, wird letztlich aber vom Präsidenten getroffen. Für die Durchführung ist im Gerichtshof die Abteilung 4 (Internationale Angelegenheiten, Protokoll) zuständig, die externe Übersetzungsbüros beauftragt. Die Anzahl der Übersetzungen hält sich beim VfGH in einem überschaubaren Rahmen. In den vergangenen zehn Jahren wurden insgesamt 46.268 Entscheidungen getroffen. Elf davon wurden vollständig (oder beinahe vollständig) ins Englische, fünf ins Französische übersetzt. Einen starken europarechtlichen Bezug wiesen fünf der ins Englische und eine der ins Französische übersetzten Entscheidungen auf. In 29 Fällen wurden mehrseitige Zusammenfassungen von Entscheidungen – eine davon mit starkem europarechtlichen Bezug – auf Englisch zur Verfügung gestellt. In einzelnen Fällen wurden auch entsprechende Presseaussendungen in englischer Sprache publiziert.

Zum Vergleich nun die Übersetzungspraxis des französischen CC: Dieses Gericht hat auf seiner Webseite bereits früh, nämlich Mitte der 90er Jahre, Inhalte in anderer, darunter auch in deutscher Sprache zur Verfügung gestellt. Das sog. Loi Toubon (Toubon-Gesetz) aus dem Jahr 1994 legt fest, dass öffentlich einsehbare Texte, wenn überhaupt, in zumindest zwei Sprachen übersetzt werden müssen, womit der Dominanz des Englischen ein Riegel vorgeschoben werden soll. Dies begünstigte die frühe Übersetzung der Webseite ins Deutsche als weiterer in Westeuropa verbreiteter Sprache. Der CC hat seit 2012 2.076 Entscheidungen getroffen, also deutlich weniger als BVerfG bzw. VfGH. Davon wurden vom gerichtsintern zuständigen Service des relations extérieures (Dienst für Außenbeziehungen), jeweils zur Gänze oder zumindest in Auszügen, 123 ins Englische, 82 ins Deutsche, 78 ins Spanische und eine ins Italienische übersetzt.[2] Auch hier zeigt sich die große Bedeutung, die dem Deutschen und damit auch dem wissenschaftlichen Diskurs in dieser Sprache beigemessen wird. Seit 2012 ergangene CC-Entscheidungen mit starkem europarechtlichen Bezug, deren Anzahl absolut, aber auch im Verhältnis zur Gesamtzahl der Entscheidungen gering ist, wurden sämtlich auch ins Deutsche übersetzt.

Die Übersetzungspraxis von BVerfG und VfGH, die wir hier nur ganz punktuell zu beleuchten vermochten, sieht die Übersetzung ausgewählter Entscheidungen vor, die auch in anderen Ländern auf Interesse stoßen und rezipiert werden könnten. Mag deren Anzahl im Vergleich zur Gesamtzahl an Entscheidungen auch gering sein, so hat die Übersetzungsbereitschaft in den vergangenen 25 Jahren doch deutlich zugenommen. Zum einen führen wir dies auf die Verbreitung des Internets zurück. Seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre unterhalten die von uns untersuchten Verfassungsgerichte Webseiten, auf denen sich mit bis dahin ungekannter Breitenwirksamkeit Inhalte, darunter auch Entscheidungsübersetzungen, zur Verfügung stellen lassen. In der europarechtswissenschaftlichen Literatur hat in diesem Zeitraum darüber hinaus die englische Sprache die deutsche einge- bzw. überholt. Gleichzeitig hat die berufliche Mobilität, also das Wirken an fremdsprachigen Forschungsstätten, (auch) bei deutschsprachigen Wissenschaftern/-innen zugenommen, die infolgedessen vermehrt in der jeweiligen Landessprache bzw. auf Englisch publizieren. Dies mag zu einer verstärkten Rezeption der Entscheidungen deutschsprachiger Verfassungsgerichte (insb. des BVerfG) in der englischsprachigen Literatur geführt haben. Auch dadurch könnte die Bedeutung von Übersetzungen gestiegen sein.[3] Schließlich ist auf den schon länger in Gang befindlichen, aber stetig sich intensivierenden Austausch zwischen Verfassungsgerichten (in Europa) hinzuweisen, wie er etwa von der Venedig-Kommission des Europarats gefördert wird. Die Einbindung in ein solches Netzwerk mag für Verfassungsgerichte ein Movens sein, den Partnern durch Übersetzungen die eigene Arbeit nahezubringen.

Der hier zum Vergleich herangezogene CC unterscheidet sich in seinem Zugang zu Übersetzungen in mehrerlei Hinsicht deutlich von BVerfG und VfGH. Einerseits ist die Zahl der Übersetzungen, gemessen an der Gesamtzahl der Entscheidungen, um ein Vielfaches höher. Andererseits ist auch die sprachliche Vielfalt deutlich ausgeprägter. Der Zahl an Übersetzungen ins Englische folgt jene von Übertragungen ins Deutsche sowie ins Spanische. Im Einzelfall wird sogar ins Italienische übersetzt. Dies lässt sich nur zum Teil durch die französische Gesetzeslage, die diese Übersetzungsvielfalt fördert, durch die vergleichsweise geringe Gesamtzahl an Entscheidungen und den relativ knappen Urteilsstil des CC erklären. Aus der Praxis des CC lässt sich auch ein starkes Bekenntnis zur deutschen Sprache, zum deutschsprachigen juristischen Diskurs sowie zur deutsch-französischen Freundschaft ablesen. Das Motiv, mit dieser Plurilingualität die Verbreitung und damit auch die Zitationszahl der eigenen Entscheidungen zu erhöhen, könnte gleichsam die zweite Seite dieser Medaille sein. Schließlich wird in Europa aus der Gruppe der nationalen Verfassungsgerichte das BVerfG von seinen Geschwistergerichten bei weitem am häufigsten zitiert. Der CC liegt in dieser Reihung hingegen – nach dem VfGH auf Platz fünf – weit dahinter an siebter Stelle.[4] Gleichzeitig – und darin liegt durchaus ein gewisser Widerspruch – zitiert der CC ausländische Verfassungsgerichte äußerst selten. Ein besonderes Sensorium für die Bedeutung der Mehrsprachigkeit, wenn es um die eigene Übersetzungspraxis geht, spiegelt sich also nicht zwangsläufig in der Zitationsfreudigkeit wider.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Übersetzungspraktiken von BVerfG und VfGH einerseits und CC andererseits sich, in Zahlen ausgedrückt, deutlich voneinander unterscheiden, und zwar schon seit geraumer Zeit. Die Gründe dafür zeichnen sich weniger deutlich ab. Sprachpolitik ist stets auch Interessenpolitik – das ist bei Gerichten nicht anders als etwa bei Regierungen –, und so wie ein Wort, will man es übersetzen, im Zusammenhang mehrere Bedeutungen haben kann, so scheinen auch hier aus ein und demselben Zahlenmaterial ganz unterschiedliche Interessen auf einmal zu sprechen.

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European Papers, Vol. 8, 2023, No 1, European Forum, Highlight of 24 May 2023, pp. 81-84
ISSN 2499-8249 - doi: 10.15166/2499-8249/637

* Univ.-Prof. Dr., Universität Salzburg, diane.fromage@plus.ac.at.

** Az. Prof. Dr., Universität Salzburg, paul.weismann@plus.ac.at.

[1] Die zur Übersetzungspraxis in BVerfG, VfGH und CC genannten Zahlen und sonstigen Informationen entnahmen wir von den gerichtsintern zuständigen Bediensteten freundlicherweise erteilten (individuellen) Auskünften sowie den Webseiten dieser Gerichte. Diese befinden sich auf dem Stand September 2022. Durch diesen allgemeinen Hinweis sollen sich Verweise auf die Fundstelle im Einzelfall erübrigen.

[2] Presseaussendungen des CC werden auf dessen Webseite hingegen ausschließlich auf Französisch zur Verfügung gestellt.

[3] Zu diesen Entwicklungen im internationalen Kontext J Trone, ‘German Constitutional Decisions in English Translation: A Supplement‘ (2008) International Trade and Business Law Review 299.

[4] S. dazu European Constitutional Court Network, eccn.at.

 

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