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Keywords: Rechtsdiskurs – Sprache – Staatenverbund – Verfassungsverbund – Verfassungsgemeinschaft – Wortwissenschaft.
Das Recht und die Wissenschaft vom Recht sind sprachgebunden; Sprache ermöglicht und begrenzt Rechtsdiskurse; Sprache ist Macht- und Vermittlungsinstrument, Rechts- und Kulturgut zugleich.[1] In der Europarechtswissenschaft – treffender sei im Plural von den Europarechtswissenschaften die Rede – wird dieser Befund rasch greifbar. Längst hat sich ein relativ eigenständiges deutsches, englisches, französisches, italienisches, schwedisches, polnisches usw. Europarecht herausgebildet, das zwar mit denselben Primär-, Sekundär und Tertiärrechtstexten – in ihrer jeweiligen Sprachfassung – umzugehen hat und in der EuGH-Rechtsprechung einen gemeinsamen Gegenstand kritischer Reflektion findet, ansonsten aber häufig “anders denkt, anders spricht und sich immer weiter voneinander entfernt“.[2] Weil nationale Denktraditionen, Dogmatiken, Methodenlehren und Terminologien den notwendigen Bezugsrahmen von Europarechtswissenschaft und europäischer Verfassungslehre[3] bilden, nehmen sie entscheidenden Einfluss auf – vermeintlich – gemeineuropäische Konzeptionalisierungen und Rechtsfiguren.[4] Diese nationale Introvertiertheit erschwert einerseits ein tatsächlich gemeinsames rechtswissenschaftliches (geschweige denn rechtspraktisches) Arbeiten an dem einen Europarecht,[5] ermöglicht aber andererseits, wenn ihre Resultate durchaus extrovertiert gesamteuropäische Rezeptionserfolge suchen, einen vielsprachigen und multi-rechtskulturellen Wettbewerb um die treffendsten Begriffe bzw. Konzepte. So kommt es bei jeder Rechtsfortbildung zu einem Wettstreit um neue normative Zuschreibungen. Kompetitiv ringen die rechtssetzenden wie rechtsdurchsetzenden Akteure darum, wirkungsmächtig ihre jeweilige Konzeption im politischen und im Rechtsdiskurs zu etablieren. Dazu ermächtigt sie ihre Sprache.
Schon Kantorowicz nennt die Rechtswissenschaft eine “Wortwissenschaft“.[6] Die normativen Gehalte des Rechts werden allein durch Sprache geformt (zumeist, aber nicht ausschließlich verschriftlicht) und durch Sprache vermittelt. Die Sprache ist nicht etwa nur Dienerin des Rechts, sondern sein zentrales Medium: Recht ist Sprache, es lebt aus deren schöpferischer Kraft und ist eingebettet in deren kulturelle Ambiance,[7] hellhörig für Sub- und Kontexte aller Art. Rechtliche Begriffsbildungen und die mit ihnen einhergehende wissenschaftliche Theoriebildung respektive Dogmatik gründen deshalb immer auch in einem Wettbewerb um Begriffe. In diesem Wettbewerb – was das Europarecht angeht, notwendig transnational und daher mehr- bzw. vielsprachig – geht es um “Neubeschreibungen der Welt in neuartigen Sprachen, die neuen Gruppen Macht verleihen“.[8] Die überkommenen auf den Staat bezogenen Begriffe, wie sie die “Allgemeine Staatslehre“ geprägt hat, vermögen das Integrationsgeschehen nicht mehr hinreichend zu beschreiben, geschweige denn konzeptionell zu erfassen.[9] Die deutschsprachige Europarechtswissenschaft ist hier gewiss bekannt für ihre konzeptionell-dogmatische Stärke; sie nähert sich den Terminologie- und konzeptionellen Fragen primär aus einer theoriegeleiteten dogmatischen Perspektive.[10]
Exemplarisch dafür steht die stark von deutschem Denken inspirierte europäische Verfassungsdebatte, die auch nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages (2005) und allen aktuellen Integrationskrisen zum Trotz nie obsolet geworden ist. Politisch hat diese Debatte der damalige Bundesaußenminister J. Fischer in seiner berühmten Rede vor der Berliner Humboldt-Universität (2000) lanciert und den Weg „von der verstärkten Zusammenarbeit hin zu einem europäischen Verfassungsvertrag” vorgeschlagen.[11] Es war vor allem I. Pernice, der den traditionellen Staatsbezug vom Verfassungsbegriff gelöst und wirkungsmächtig das Konzept eines europäischen Verfassungsverbundes aus Unionsverfassung und mitgliedstaatlichen Verfassungen entwickelt hat.[12] Dass der aus dem staatlichen Recht geläufige Begriff einer Vollverfassung sich dabei nicht schlichtweg analog auf Verfassungsmodelle jenseits des Staates übertragen lässt, zog die Lehre vom europäischen Verfassungsverbund nie in Zweifel.[13] Im Gegenteil: Zu ihrer Adaption im überstaatlichen Rechtsraum bedarf die regulative Idee der Verfassung funktionsspezifischer Adaptionen bzw. Modifikationen. Die entsprechenden variantenreichen Modifikations- bzw. Adaptionsversuche finden auch in der Terminologiebildung ihren Niederschlag. Besonders wirkungsmächtig ist das Konzept des Mehrebenen-Konstitutionalismus.[14] Dieses den Politikwissenschaften entlehnte Modell hat sich für den europäischen Verfassungsraum weithin durchgesetzt und findet im englischsprachigen “multilevel constitutionalism“ ein Pendant, das den Rezeptionserfolg erleichtert. Schwerer übersetzbar und – auch deshalb – weniger stark verbreitet sind Umschreibungen bzw. (Leit-)Bilder wie “Politik“[15]- oder “Mehrebenenverflechtung“[16] Auf die demokratischen Legitimationsnotwendigkeiten verweist die Formel von der “Mehrebenen-Demokratie“.[17]
Zwei Begriffe prägen die deutsche Debatte besonders nachdrücklich: der “Verfassungsverbund“[18] oder die “Verfassungsgemeinschaft“.[19] Sie wollen verdeutlichen, dass das Unionsprimärrecht weniger für sich allein als in Wechselwirkung mit den mitgliedstaatlichen Verfassungen konstitutionelle Qualität gewinnt. Vor allem verfolgt die Union im Zusammenspiel mit den nationalen Verfassungen, aus denen sie ihre Wertgrundlagen ableitet, “gemeinwesenartig-komplexe“ Ziele (siehe nur Art. 2 und 3 EUV).[20] Beide Termini betonen zum einen die Möglichkeit von Verfasstheit jenseits des Staates, zum anderen das Gemeinsame, das Verbundensein respektive das immer neue Sich-Verbinden in/zu einer “ever closer Union“. Sie wollen ein konstitutionelles Fortschrittsnarrativ etablieren, während das Bundesverfassungsgericht mit seiner Formel vom “Staatenverbund“ stärker etatistisch denkt.[21] In beiden Varianten steht der Verbundbegriff für das Bemühen, die spezifische Integrationsdichte der Europäischen Union zwischen bloßem Staatenbund und echtem Bundestaat auf einen treffenden neuen Nenner zu bringen. Die “Verfassungsgemeinschaft“ knüpft an klassische Gemeinschaftsideen/ideale und die Begriffswelt vor Lissabon an: Europäische Gemeinschaft. Wer sich an einer Übersetzung der Verbundmetapher und dem zusammengesetzten Substantiv “Verfassungsgemeinschaft“ in eine der anderen Amtssprachen der EU versucht (etwa den “constitutional compound“ oder die “constitutional community“), stößt schnell an Grenzen. In anderen Sprachversionen verlieren die Begriffe ihre je eigenen und ganz eigenwilligen Subtexte respektive Kontexte; begriffsprägende Vorverständnisse[22] sind nicht mehr präsent. Schon deshalb sollte sich eine Europarechtswissenschaftlergemeinschaft in ihrer je eigenen Sprache Gehör verschaffen und, vielleicht noch wichtiger, den jeweils anderen Europarechtswissenschaftlergemeinschaften genau zuhören.
In conclusio sei daher festgehalten: Es mag kontra-intuitiv erscheinen, dass sprachliche Diversität und eine je eigene europarechtliche Terminologiebildung der Mitgliedstaaten einen positiven Integrationsbeitrag leisten können. Wenn sich die nationalen Terminologien von ihren gemeineuropäischen Bezugspunkten entfernten und ihre spezifischen dogmatischen Entwürfe zum europäischen Goldstandard überhöhen wollten, bliebe ein konstruktiver Integrationsschub denn auch illusorisch. Wenn aber vertraute Erklärungsmuster in der jeweils eigenen Sprache den Integrationsprozess bürgerverständlicher erklären, dabei mit den (dogmatischen) Angeboten der anderen Mitgliedstaaten in einen (semantischen) Wettbewerb treten und so zugleich das Erkenntnispotential rechtsvergleichenden Arbeitens nutzen, ist dem Europa der Bürgerinnen und Bürger ein nicht nur sprachlich guter Dienst erwiesen. Die vielberufene europäische Bürgerdemokratie muss nicht zuletzt zum sprachlichen Ereignis werden.
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European Papers, Vol. 8, 2023, No 1, European Forum, Highlight of 24 May 2023, pp. 89-92
ISSN 2499-8249 - doi: 10.15166/2499-8249/639
* Prof. Dr., Universität Hamburg, markus.kotzur@jura.uni-hamburg.de.
[1] W Kahl und R Schweizer, ‘Sprache als Rechts- und Kulturgut’ (2006) Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatslehrer 346, 388; A Amsterdam und J Bruner, Minding the Law (Harvard University Press 2000).
[2] A Hatje und P Mankowski, ‘„Nationale Unionsrechte“ – Sprachgrenzen, Traditionsgrenzen, Systemgrenzen, Denkgrenzen’ (2014) EuR 155, 158.
[3] P Häberle und M Kotzur, Europäische Verfassungslehre (Nomos/Dike 8. Aufl. 2016).
[4] P Häberle, ‘Gemeineuropäisches Verfassungsrecht’ (1991) EuGRZ 261.
[5] A Hatje und P Mankowski, ‘„Nationale Unionsrechte“ – Sprachgrenzen, Traditionsgrenzen, Systemgrenzen, Denkgrenzen’ cit. 158.
[6] H Kantorowicz, ‘Rechtswissenschaft und Soziologie’ in: H. Kantorowicz (Hrsg.)., Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre (Heidelberg 1962) 126.
[7] So schon E Forsthoff, Recht und Sprache (1940).
[8] M Koskenniemi, ‘Formalismus, Fragmentierung, Freiheit – Kantische Themen im heutigen Völkerrecht’ in R Kreide und A Niederberger (Hrsg.), Transnationale Verrechtlichung. Nationale Demokratie im Kontext globaler Politik (Campus-Verlag 2008) 70.
[9] J Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente im deutschen und europäischen Staats- und Verfassungsrecht (Duncker & Humblot 2008) 77.
[10] Dafür steht etwa A Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (Duncker & Humblot 2001).
[11] Abrufbar unter www.bundesregierung.de (zuletzt besucht am 15. 01. 2023).
[12]I Pernice, ‘Die dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund’ EuR (1996) 27, 33: „Der Begriff des Verfassungsverbundes kennzeichnet (…) die materielle Einheit von Gemeinschafts- und innerstaatlichem (Verfassungs-)Recht“; ders., ‘Der Europäische Verfassungsverbund auf dem Wege der Konsolidierung’ 48 (2000) JöR 205; ders., ‘Europäisches und nationales Verfassungsrecht’ 60 (2001) Veröffentichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 148.
[13] H Krieger, ‘Verfassung im Völkerrecht – Konstitutionelle Elemente jenseits des Staates’ (2016) Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtlehrer 439, 443.
[14] I Pernice, ‘Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-Making Revisited?’ (1999) CMLRev 703; fortentwickelt bei M Knauff, Der Regelungsverbund (Mohr Siebeck 2010) 7.
[15] F W Scharpf, B Reissert und F Schnabel, Politikverflechtung (1976).
[16] A Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (Duncker & Humblot 2001) 188; ihr folgend J Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente im deutschen und europäischen Staats- und Verfassungsrecht (Duncker & Humblot 2008) 75.
[17] U Di Fabio, Das Recht offener Staaten (Mohr Siebeck 1998) 139.
[18] Prägend I Pernice, ‘Deutsches und europäisches Verfassungsrecht’ (2001) Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtlehrer 148, 163.
[19] P Häberle, ‘Europa als werdende Verfassungsgemeinschaft’ (2000) DVBl 840.
[20] A Hatje und P-C Müller-Graff, ‘Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht’ in A. Hatje und P-C Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht, Enzyklopädie Europarecht Bd. 1 (2. Aufl. Baden-Baden Nomos 2021) § 1 Rn. 17.
[21] BVerfGE 89,155 – Maastricht; 123, 267 – Lissabon.
[22] J Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1972); vorher bereits H-G Gadamer, Wahrheit und Methode (1960).